Prof. Dr. Jörg Fegert

  

„Eltern als beste Garanten der Kindesinteressen?“, Prof. Dr. Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm, Präsident Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomathik und Psychotherapie e.V. (DGKJP)

 

Die schnellen Aktivitäten des deutschen Gesetzgebers in Bezug auf die religiös motivierte Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen männlichen Säuglingen und Knaben haben nicht wirklich zu einer Verbesserung der Situation für die betroffenen Kinder geführt. Es mehren sich Anzeichen, dass medizinisch unhaltbare Praktiken weiterhin aufrechterhalten werden.

 Auch in unserer Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, gab es über die, unter hohem Zeitdruck durch das BMJ, von mir erstellte Stellungnahme eine kontroverse Debatte. Die Ethikkommission unserer drei Fachverbände hielt die hier vertretene Position für problematisch und forderte eine weitergehende Diskussion. Ausgangspunkt bei der Bewertung in der Stellungnahme war die Einschätzung des Eingriffs bei männlichen Säuglingen und Knaben als ein Vorgehen, welches medizinischen Bagatelleingriffen (not major than minor harm) gleichgesetzt werden könne. Diese damalige Einschätzung stützte sich auf eine Literaturrecherche und Literaturübersicht zu Beschneidungsrisiken und -folgen. Dem gegenüber werden Positionen zum frühkindlichen Schmerzempfinden ins Feld geführt, welche allerdings nicht hinreichend empirisch abgesichert sind und der Eingriff mit den Klitorisbeschneidungen verglichen wird.

In vielen anderen lebensbestimmenden Bereichen überlässt der Gesetzgeber den Eltern eines Kindes in sehr weitem Umfang Entscheidungen, die für das weitere Leben des Kindes von hoher oder höchster Bedeutung sind. Die Eingriffsschwelle des Staates in den grundgesetzlich definierten Schutzraum der Familie macht sich an der nicht anders abwendbaren Kindeswohlgefährdung fest. Einige pädiatrische Fachverbände haben die nicht medizinisch indizierte Beschneidung als Kindeswohlgefährdung klassifiziert und dementsprechend ein Verbot und damit verbunden notfalls auch Eingriffe ins Sorgerecht etc. gefordert. Zum Kindeswohl gehört allerdings auch die Religionsfreiheit, und hier stellt sich die Frage, ob sich ohne Schaden für das Kind und ohne Beeinträchtigung seiner Rechte, aus der Sicht z.B. orthodox jüdischer oder konservativ islamischer Eltern und Kinder, ein Hinausschieben von Entscheidungen bis ins Jugendlichenalter unproblematisch bewerkstelligen lässt. Grundsätzlich anders als bei anderen Formen der Kindesmisshandlung sind die Intentionen der Eltern bei der Veranlassung des Eingriffs. Der Begriff der Kindeswohlgefährdung, der auch die Eingriffsschwelle im Bürgerlichen Gesetzbuch markiert, macht sich an der Gefährdung der weiteren Entwicklung des Kindes fest. Hier gilt es einzuschätzen, ob der in einem religiösen Kontext vorgenommene Eingriff, der sich an die Rahmenbedingungen des deutschen Gesetzgebers hält, für die Zukunft mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit zu Beeinträchtigungen führen wird.